Freitag, 31. März 2006

Lesen & Lernen

für M.

Ihre Stimme fiel tief hinunter und sprang wieder hinauf, wenn Thaddeus Tatzentupf „Ich bin nicht angegriffen, ich bin erbost!“ rief, aber im Buch waren die Zeilen ganz gerade gedruckt. Auch das war eines jener Erwachsenengeheimnisse, die mich sehr beschäftigten, ohne dass ich darüber auch nur ein Wort verlor, denn es wäre sinnlos gewesen, jemanden nach einem Geheimnis zu fragen, dessen Bestandteil er war. Die Mutter verwandelte sich ja beim Lesen und wurde erst wieder meine Mutter, wenn sie das Buch zuschlug und: „Morgen Abend geht’s weiter“ sagte, und nichts sprach dafür, dass sie von dieser Verwandlung wusste. Meine Mutter glaubte, dass sie meine Mutter war, wenn sie an meinem Bett saß und mir aus Thaddeus Tatzentupf vorlas. So studierte ich eine Zeitlang ihre Hände, wie sie das Buch hielten, und ihre Finger, wie sie die Seiten umblätterten, aber das brachte mich nicht weiter. Ausgiebiger widmete ich mich ihrem Mund, der ganz fremd war, weil ich ihn – ich lag im Bett und sie saß am Kopfende – verkehrt herum sah. Ich kam allerdings bald zu dem Schluss, dass das nicht das Entscheidende sein konnte, denn ich musste nur meine Liegeposition ändern, ja es reichte schon, wenn ich ihren Mund in meiner Vorstellung umdrehte, und schon war er wieder wie immer. So durchsuchte ich – Seite für Seite – das Buch von der Geschichte des Bären, der seine Familie immer wieder zum Umziehen nötigte, aber auch in der neuen Wohnung binnen Kürze unzufrieden war, bis die Bärenfamilie wieder in ihrem ursprünglichen Zuhause angelangt war, aber obwohl das „Ich bin nicht angegriffen, ich bin erbost!“ oft in diesen Zeilen stecken musste, fand ich keine einzige, die in abfallenden und aufsteigenden Wellenlinien geschrieben war. Woher wusste die Mutter, wann sie mit der Stimme hinunter und wann hinauf gehen musste, wenn es doch nirgends zu sehen war? Ich wollte also unbedingt selbst lesen lernen, aber dann war meine Enttäuschung riesengroß: in dem Buch, das ich einige Monate nach dem Schulanfang geschenkt bekommen hatte, stand nichts, das auch nur annähernd dem ähnelte, das die Mutter aus dem Thaddeus Tatzentupf-Buch vorlas. Ich erinnere mich noch an die vage Hoffnung, dass das anders werden würde, wenn ich die richtigen Bücher lesen würde können, Bücher in Groß- und Kleinbuchstaben, Bücher mit längeren Sätzen, mit viel mehr Seiten und viel weniger Bildern, aber stärker als diese Hoffnung war die Gewissheit, dass ich auf das Geheimnis vergessen würde, sowie ich das erste richtige Buch lesen würde können.


(Thema: Wir erfinden neue Gattungen: Kurze Erzählung im Retrofutur)

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