Die Frau sitzt auf ihrem Tretbootstühlchen wie ein in Streifen geschnittenes Foto, als ob sie ins Schaufelrad geraten, einmal durchgedreht und schließlich wieder herausgespült worden wäre. Die Streifen sind schlecht zusammengesetzt. Die Alte Donau ist spiegelglatt, nicht einmal Wasserbläschen steigen auf, das Tretboot steht festgeleimt im Wasser, auf dem Stühlchen thront die verwackelte Frau, der kleine Gott des Schaufelrads zieht weiter. Die Sonne steht hoch im Mittag, ein paar Schritte noch, dort gibt es direkt am Wasser die besten Spareribs von Wien.
(Thema: Wien)
ahg - 3. Apr, 06:34
für M.
Ihre Stimme fiel tief hinunter und sprang wieder hinauf, wenn Thaddeus Tatzentupf „Ich bin nicht angegriffen, ich bin erbost!“ rief, aber im Buch waren die Zeilen ganz gerade gedruckt. Auch das war eines jener Erwachsenengeheimnisse, die mich sehr beschäftigten, ohne dass ich darüber auch nur ein Wort verlor, denn es wäre sinnlos gewesen, jemanden nach einem Geheimnis zu fragen, dessen Bestandteil er war. Die Mutter verwandelte sich ja beim Lesen und wurde erst wieder meine Mutter, wenn sie das Buch zuschlug und: „Morgen Abend geht’s weiter“ sagte, und nichts sprach dafür, dass sie von dieser Verwandlung wusste. Meine Mutter glaubte, dass sie meine Mutter war, wenn sie an meinem Bett saß und mir aus Thaddeus Tatzentupf vorlas. So studierte ich eine Zeitlang ihre Hände, wie sie das Buch hielten, und ihre Finger, wie sie die Seiten umblätterten, aber das brachte mich nicht weiter. Ausgiebiger widmete ich mich ihrem Mund, der ganz fremd war, weil ich ihn – ich lag im Bett und sie saß am Kopfende – verkehrt herum sah. Ich kam allerdings bald zu dem Schluss, dass das nicht das Entscheidende sein konnte, denn ich musste nur meine Liegeposition ändern, ja es reichte schon, wenn ich ihren Mund in meiner Vorstellung umdrehte, und schon war er wieder wie immer. So durchsuchte ich – Seite für Seite – das Buch von der Geschichte des Bären, der seine Familie immer wieder zum Umziehen nötigte, aber auch in der neuen Wohnung binnen Kürze unzufrieden war, bis die Bärenfamilie wieder in ihrem ursprünglichen Zuhause angelangt war, aber obwohl das „Ich bin nicht angegriffen, ich bin erbost!“ oft in diesen Zeilen stecken musste, fand ich keine einzige, die in abfallenden und aufsteigenden Wellenlinien geschrieben war. Woher wusste die Mutter, wann sie mit der Stimme hinunter und wann hinauf gehen musste, wenn es doch nirgends zu sehen war? Ich wollte also unbedingt selbst lesen lernen, aber dann war meine Enttäuschung riesengroß: in dem Buch, das ich einige Monate nach dem Schulanfang geschenkt bekommen hatte, stand nichts, das auch nur annähernd dem ähnelte, das die Mutter aus dem Thaddeus Tatzentupf-Buch vorlas. Ich erinnere mich noch an die vage Hoffnung, dass das anders werden würde, wenn ich die richtigen Bücher lesen würde können, Bücher in Groß- und Kleinbuchstaben, Bücher mit längeren Sätzen, mit viel mehr Seiten und viel weniger Bildern, aber stärker als diese Hoffnung war die Gewissheit, dass ich auf das Geheimnis vergessen würde, sowie ich das erste richtige Buch lesen würde können.
(Thema: Wir erfinden neue Gattungen: Kurze Erzählung im Retrofutur)
ahg - 31. Mär, 08:20
Auf der Kriechspur fährt eine Karosserie, schwarz wie frischer Asphalt und keine Reifen, aber Räder wie Frisbeescheiben. Amelie hängt den Kopf aus dem Fenster und schaut, bis nichts mehr zu sehen ist. „Leichenwagen auf Autobahn, eine Überstellung, notieren Sie das bitte“, sagt die Witzfigur vom Beifahrersitz zum Chauffeur. Amelie ruft ins Wageninnere: „Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen.“ Darauf die Witzfigur: „Ne pas se pencher au dehors“, aber Amelie kann kein Französisch. „Wer nicht hören will, muss fühlen“, sagt der Chauffeur und drückt auf den Fensterheber.
(Thema: Was einem so einfallen kann)
ahg - 30. Mär, 09:02
Du musst dir das so vorstellen, hat G. zu mir gesagt, dass du am Treppenabsatz stehst und weißt, dass du diese Stiegen schon hunderttausend Mal hinunter gegangen bist, aber jetzt liegen sie vor dir, als ob du sie noch nie gesehen hättest. Du weißt, dass sie hinunter führen, du weiß, dass unten die Straße ist, aber wie das Stiegensteigen geht, hast du vollkommen vergessen. Du erfindest also das Stiegensteigen, wie du zuvor schon das Aufstehen, Anziehen, Kaffeemaschine in Gang Setzen, Waschen, usw. erfunden hast, und sagst dir vor: Halt dich am Handlauf fest und setz Schritt für Schritt, langsam und Stufe um Stufe. Im Ohr hast du das Geräusch eines brechenden Knochens, das du ignorierst, damit du heil hinunter kommst. Du musst dein Gedankengewicht in die Hand am Handlauf und in den Fuß legen, der sicher auf einer Stufe steht, damit du nicht mitten im Stiegensteigen vergisst, dass du gerade Stiegen steigst. Du hast dir das Hinuntersteigen ja nur erfunden, damit du die zwei Stockwerke hinunter kommst, Hand und Beine, auch sie ohne jede Erinnerung, sind ja auf deine Erfindungen angewiesen. Du musst also aufpassen, dass sie dir nicht davon hampeln, irgendwelchen unbedachten Ideen hinterher, und am Schluss liegst du unten mit gebrochenen Knochen. Soviel dazu, hat G. gesagt und dann hat sie gelacht, als ob sie mich zu ihrer Komplizin gemacht hätte.
(Thema: Portrait)
ahg - 29. Mär, 07:19
www.buecher-magazin.de: „bücher rettet Wörter“: Leser können Wörter vor dem Vergessen retten. Schicken Sie Ihre liebsten Wörter, um deren Weiterleben Sie bangen, an die bücher-Redaktion. Wenn die Sammlung groß genug ist, wird sie veröffentlicht.
Per E-Mail an: leser@buecher-magazin.de
ahg - 28. Mär, 06:38
Weil es sich bei der im Sieb abgefangenen Haut um Menschenhaut handelt, gerät das Morgenpersonal in ungewohnte Betriebsamkeit. Hektisch wird nach einem Werkzeug gesucht, mit dem sich die Haut aus dem Sieb entfernen lässt, ohne sie zu zerlöchern oder gar zu zerreißen, und schnell muss es gehen, damit sie nicht festtrocknet. Chinesische Essstäbchen bieten sich an, denn bei Fingern kann für nichts garantiert werden und Garantien sind gerade am frühen Morgen sehr wichtig, damit das noch schlafwarme Bett nicht plötzlich seine Fänge ausfährt, Hautfänge, Hautanfänge, Träume von früher, Kakaohautträume, die noch weniger stattgefunden haben als die Menschenhaut, die nun mit Essstäbchen aus dem Sieb gezupft und vorsichtig zwischen zwei Dachlatten zum Trocknen aufgespannt wird, nur das Antackern lässt sich nicht vermeiden. Das Hautsegel wird ans Fenster gestellt, erschöpft spricht man nun endlich dem Kaffee zu und die Sonne scheint milchig, als ob sie das Morgenpersonal mit dem hereinbrechenden Tag versöhnen wollte.
(Thema: Wir erfinden neue Gattungen: Indubiosität)
ahg - 28. Mär, 06:19
Als Lapschinsky zum hundertsten Mal „Wie schön für dich“, sagte und sich dann wieder an mein Gesicht hängte, das er mir eh schon bis zum Boden hinunter ausgeleierte hatte, kredenzte ich ihm, ohne mein Reden zu unterbrechen, eine Trinkbombe. Er griff gierig danach und trank sie in einem Zug leer. Während es ihn in seine Bestandteile zerriss, schnitt ich mir die überschüssige Gesichtshaut ab, und als er fertig explodiert war und in handlichen Stücken am Boden lag, sammelte ich die Gustostückerl auf und steckte sie in den Sack, den ich mir in Null-Komma-Nichts aus meiner abgeschnittenen Gesichtshaut genäht hatte.
(Thema: Portrait)
ahg - 27. Mär, 07:24
Wenn die Eltern, die Tanten und die Onkel in der Küche saßen und wegen Klein-Wilhelms gewaltiger Ohren traurig waren – Wie schön wäre der Bub sonst gewesen und wie schwer wird er’s haben! –, stand die Großmutter am Kinderbett und kämmte mit der weichen Babybürste Wilhelms Ohrhärchen. Blies sie leise Lieder in seine Gehörgänge, legte sie ihm seine Ohren wie Daunendeckchen über den Kinderleib. „Damit du dein Herz schlagen hörst,“ sagte sie. Wilhelm schaute, so gut das ging, zwischen seinen Ohren heraus auf Großmutters Mund, der sich plötzlich zu einem Babykuss zuspitzte, gewaltige Lippen, die einen Krater formten, Wilhelms Herz trommelte Alarm, doch bevor er zu schreien anfangen konnte, hatte die Großmutter auch schon die Babybürste in der Hand. Sie strich ihm den Mund und die Augen so weich, bis sie zufielen und sein Herz den schaukelnden Takt einer Eisenbahn klopfte.
(Thema: Zeitmaschine)
ahg - 26. Mär, 06:51
Eines Tages war Griebigs Hund, der ihm zugelaufen war und den er Jahr und Tag wie ein Kind in die Höhe gebracht hatte, tot und es hieß in ganz Arletzroith und Umgebung, dass er ihn verhungern habe lassen. Quietschfidel sei der Hund gewesen, als er das letzte Mal gesehen worden war, und wohl genährt und sein Fell habe geglänzt und jetzt: ein räudiger, abgemagerter Straßenköter war es, der auf dem Untersuchungstisch lag. Griebig war ein Sonderling, das war über die Jahre nicht vergessen worden, man hätte ihm den Hund rechtzeitig wegnehmen sollen, irgendeiner hätte sich des Tieres schon angenommen, man hätte sich von Griebig nicht täuschen lassen dürfen. Der Plessheimer Tierarzt hielt die Leichenbeschau und erklärte den Arletzroithern, die sich auf dem Arletzroither Kirchenplatz eingefunden hatten, um das Ergebnis abzuwarten, dass Griebig keine Schuld treffe, dass der Hund nicht verhungert, sondern an galoppierender Schwindsucht verstorben sei. Da die Arletzroither von der Tiermedizin nichts verstanden und der Plessheimer Tierarzt nichts von den Arletzroithern, wurde Griebig selbst geholt. Der Arletzroither Gemeinderat vermaß die Krümmung seines Rückens, untersuchte seine Tränen auf Menge und Salzgehalt, eruierte Tiefe und Länge seiner Falten und der Bürgermeister boxte ihm unversehens bis knapp vors Gesicht. Dass Griebig mit keiner Wimper zuckte, war ein eindeutiger Beweis.
(Thema: Portraits)
ahg - 25. Mär, 07:20