Donnerstag, 13. April 2006

Wenn dein Name nicht Daniel ist

Mit dem großen Zeh oder wenn du mit dem großen Zeh ein Loch in den vom letzten Mal noch wasserweichen Boden bohrst (vielleicht bist du verlegen, vielleicht ist dir langweilig, vielleicht steht dir der Sinn nach Urschlamm), und es regnet und regnet und regnet oder wenn es regnet und regnet und regnet, und du stehst in einer Grube oder wenn du in einer Grube stehst, und die Grube füllt sich mit Regenwasser oder wenn sich die Grube mit Regenwasser füllt, ist dein Name nicht Daniel, schließlich ist auch nirgends ein Löwe zu sehen, dann stehst du vielmehr in einer ziemlich großen Badewanne und dein Zeh ist der Stöpsel, den du, fasziniert, wie du bist, erst im letzten Moment herausziehst, kurz bevor das Wasser deine Nasenlöcher verschließt.

(Wir erfinden neue Gattungen / Naturalie)

Mittwoch, 12. April 2006

Ein Stöckelstück

Hermine von der Flottenstation hat rosarote Augen und einen lila Mund. Sie klappert auf Stöckeln durch die Weltgeschichte, die, wie sie zwischen ihren lila Lippen heraus behauptet, ein einziges Katzenkopfpflaster sei. Nicht nur auf Plätzen und in den Altstädten, sondern schlichtweg überall, und es sei die entscheidende Kunst, mit jedem Schritt direkt auf einen Katzenkopfpflasterstein zu treffen. In den Zwischenraum gestöckelt, ruiniere es den Lederüberzug oder der Stöckel breche gleich ab und stecke dann als völlig sinn- und zweckloser Stolperstöckel in der Weltgeschichte, irritiere die Nachkommenden oder bringe sie gar zu Fall. Mit dem Geklapper wäre es dann bis auf Weiteres auch vorbei und über die Optik des Gehens auf einem entstöckelten Stöckelschuh wolle sie sich erst gar nicht auslassen. Um hüfttechnische Schäden hintan zu halten, müsse man den Weg zum nächsten Schuster barfuß antreten. „Verstohlen wie ein Dieb!“, rief sie aus und aus ihren Augen quollen rosarote Tränen, die sie in einer Kaffeefiltertüte sammelte. Zur Farbgewinnung, wie sie mir erklärte. Sie griff sich zwischen die Brüste und holte einen kleinen Leinenbeutel heraus. „Mein Schatz!“, flüsterte sie und ließ mich einen Blick auf ein Häuflein rosa Staubes tun. Der Staub war sehr fein, ein Blick genügte, um ihn in Aufregung zu versetzen, aber Hermine schloss den Beutel rechtzeitig. Als sich meine Nase entlud, war ihr Schatz bereits wieder in ihrem Busen verschlossen. Während ich mich schnäuzte, musterte sie meine Füße und mutmaßte allerhand Übles über meine Schuhe. Ich schrieb die Frechheiten, die wie Kaninchen aus einem umgestülpten Zauberhut auf meine Zehen fielen, dem Umstand ihres Derangements zu, das sie aus der Bahn geworfen haben musste, denn normalerweise ließ sie sich nie zu fremden Füßen herab, um irgendetwas über sie zu äußern. Dazu fehlte ihr wohl schon das Interesse, außerdem wollte ich mich, barfuß und zerschunden, wie ich war, nicht mit ihr streiten. Ich war böse gefallen, hatte nicht nur den Absatz eines Schuhs verloren, sondern mir auch noch Gesicht und Arme aufgeschürft, die rostroten Flecken des Desinfektionssprays zogen sich von meiner Stirn bis zu den Ellenbogen, Unterarmen, Händen. So gesehen war es ein Glück, dass sich Hermine auf das Schwadronieren, meine Füße und mein Schuhwerk betreffend, beschränkte. „Sie ist eben wie all die andern armen Geschöpfe von der Flottenstation nicht ganz klar im Kopf“, redete ich mir also gut zu, „Und das Geklapper von einer mit rosaroten Augen und lila Mund soll man sowieso nicht für voll nehmen, schon gar nicht, wenn sie barfuß beim Schuster sitzt.“ Trotzdem war ich froh, als der Schuster: „Meine Damen! Ihre Schuhe sind fertig!“ rief.

(Thema. Was einem so einfallen kann)

Montag, 10. April 2006

Aus Mangel an Beweisen

Sie wisse nicht mehr, wann und warum ihr die Meinungen ausgegangen seien, eines Tages seien einfach keine mehr da gewesen. So sehr sie nach wie vor suche – ich müsse ihr glauben, es gebe keinen einzigen Winkel in ihr, den sie nicht tagtäglich aufs Gründlichste erforsche, ob sich nicht doch wenigstens eine einzige kleine Meinung dort versteckt halte – sie habe seit Monaten keine mehr gefunden. Die Folgen seien fatal, sie sei zunächst der Unehrlichkeit, ja der Verschlagenheit bezichtigt worden, dann des Mitläufertums und zuletzt sei sie entmündigt worden. „Aus Mangel an Beweisen“, sei auf dem Papier gestanden, das man ihr nach einer sogenannten Zivilrechtsverhandlung ausgehändigt habe. Sie wisse nicht, was sie davon halten solle, ich möge ihr doch beistehen, ich sei die Letzte, die sie überhaupt noch zur Kenntnis nehme, denn seit man ihr diesen Mangel an Beweisen attestiert habe, werde sie praktisch wie Luft behandelt. „Als ob es mich nicht gäbe,“ sagte sie, „Und vielleicht gibt es mich ja auch gar nicht. Denn was wird sein, wenn meine restlichen Wörter aufgebraucht sind?“ Man habe ihr, um ihre Dinge zu ordnen, so weit es da überhaupt etwas zu ordnen gebe, noch einige wenige Tage bis zur endgültigen Entmündigung zugestanden, heute sei ihr letzter Tag und ich sei ihre letzte Hoffnung. „Ob Sie mein Vormund sein könnten?“ Endlich war es heraußen und endlich schwieg sie, stierte mir aber Löcher in die Augen, als ob das ein Beweis ihrer Existenz sein könnte, deretwegen ich mir Gedanken machen müsste, als ob sie nicht mit einem einzigen Lidschlag zu beseitigen gewesen wäre.

(Wir erfinden neue Gattungen: Indubiosität)

Samstag, 8. April 2006

Darf's ein bisserl

Die Frage hätte mich stutzig machen sollen, denn hinter welcher ordentlichen Feinkosttheke wird schon „Darf’s ein bisserl weniger sein?“ gefragt, aber ich war wohl zu sehr in Gedanken gewesen, um mit einem strammen „Nein!“ zu reagieren, vielmehr habe ich vermutlich freundliche Zustimmung genickt, als ob man mich „Darf’s ein bisserl mehr sein?“ gefragt hätte. Ich war so sehr mit den Vorbereitungen für die sonntägliche Festivität beschäftigt – Hatte ich genügend kleine Aufmerksamkeiten zusammengesucht? Waren die Verstecke gut gewählt? War der Tischschmuck komplett? Stimmte die Farbharmonie oder sollte ich doch ein anderes Tischtuch auflegen? –, dass mir auch das geringe Gewicht des Päckchens nicht auffiel, und so kam es, dass ich erst am nächsten Tag und bei den letzten Vorbereitungen begriff, was ich am Vortag eigentlich gefragt worden war. Da war es allerdings zu spät: Als ich das Wurstpapier auffaltete, fand ich bloß ein einziges, hauchdünn geschnittenes Schinkenblättchen vor. Dass ich es mit in Röschenform gebrachten Radieschen und aufgefächerten Gürkchen garnierte, nützte nichts und auch die in meiner Verzweiflung halbierten und mit Mayonnaisetupfern zu Gesichtern verzierten Eier täuschten niemanden darüber hinweg, dass meine Schinkenplatte magerer als mager war. Wodurch sie sich allerdings, wie mir auffiel, als ich aufstand, um eine neue Flasche Wein zu holen, aufs Deutlichste von dem unterschied, das als Gästeschinken auf meinen Stühlen saß. Die absolute Menge stimmte also, nur die Verteilung des Schinkens war gewissermaßen in Richtung Hosenboden verrutscht. Diese Beobachtung brachte mich nicht nur wieder ins Gleichgewicht, sondern stimmte mich auch so heiter, dass ich meinen Ruf als charmante Gastgeberin auch an diesem schwierigen Tag mit Bravour verteidigen konnte.

(Thema: Wir erfinden neue Gattungen / Indubiosität)

Freitag, 7. April 2006

Singuläre Punkte

Wanja entwirft großzügigste Pläne allumspannender Wirkungsgrade und wird er engagiert, fügt er dem Plan ein sogenanntes Wirkungskompendium an, zum Bersten voll mit allerlei Berechnungen, die niemand außer Wanja versteht. Wanjas Kundschaft soll ihn weiterhin für einen Meisters seines Faches halten, soll weiterhin in sein Büro unter dem Stadtbahnbogen am Währinger Gürtel kommen, einen Stein in der Hand und den Wunsch im Herzen, dass er, in die Donau geworfen, Kreise ziehe bis sonst wohin, womöglich bis Sibirien. Nicht dass ein Kunde je einen von Wanjas Wirkungsgraden gesehen hätte, aber beschwert hat sich noch keiner, weil ja keiner gleichzeitig in Sibirien und in Wien stehen und also Wanjas Arbeit überprüfen kann. Außerdem, sagt Wanja, errechne er singuläre Punkte und die könne sowieso nur der realisieren, der sich statt des Steines selbst von der Reichsbrücke herunter in die Donau fallen lasse. Und das hat sich dann doch noch keiner aus Wanjas Kundschaft antun wollen.

(Thema: Wien)

Donnerstag, 6. April 2006

Krötenwanderung

„Kennst du das Land“, begann sie und ich stellte mich auf einen längeren Rezitationsabend ein, aber dann fuhr sie fort: „in dem die Angst wie eine Kröte hockt?“ Ich nickte mechanisch, wie ich es immer hielt, wenn sie etwas zum Besten gab, und sie fuhr fort: „Und wie es ist, wenn die Kröte aufexplodiert in Tausende ihrer Art und wenn sie zu wandern beginnen, wie es ihre Natur verlangt? Wenn sie bis in die Zehen, die Finger, die Haarwurzeln, wenn sie bis ins Zahnfleisch wandern und dort herumscharren, weil es sie weiter drängt, aber es gibt keinen Weg, weil das Land von einem Krötenschutzzaun umgeben ist?“ Ganz gegen ihre Gewohnheit hielt sie in ihrem Vortrag inne. Sie streckte mir ihre Arme entgegen: „Schau doch selbst!“, sagte sie, aber ich sah nur ganz normale Arme und auch die Finger waren wie immer. Damit sie meine Ratlosigkeit nicht bemerkte, bückte ich mich noch ein Stück tiefer, und während ich so auf ihre Arme starrte, sah ich, dass sich die vielen Hauthärchen kerzengerade aufgestellt hatten. Sie strich sich rasch über die Arme, als ob sie die Härchen abstreifen wollte, und ich hörte sie irgendetwas sagen, aber ich konnte sie nicht mehr verstehen, zu sehr war ich über das feucht-kühle Getrappel, das mir plötzlich in den Nacken gefallen war, erschrocken.


(Thema: Wir erfinden neue Gattungen / Naturalie)

Mittwoch, 5. April 2006

Stilleben mit Wippe

Er wusste, dass er gut aussah und sehr besonders, wie er da auf der verwaisten Wippe saß mit angezogenen Beinen, das Buch auf den Knien und jeden Blick drin versenkt, so fern vom Getriebe der anderen. Was Jeremy nicht wusste: seine Pheromone verrieten ihn nicht nur an ambitionierte junge Mütter, Tanten, Babysitterinnen, sondern auch an Doppelnasengesichter mit allerhand Körper drunter. Zuviel Nase und zu viel Körper für Jeremy, den es meterweit in die Höhe schleuderte, weil ein Doppelnasengesicht mit allerhand Körper drunter in einem ebenso beachtlichen wie unerwarteten Satz auf den zweiten Sitz der Wippe gesprungen war.

(Thema: Wien)

Dienstag, 4. April 2006

Amandine

An ihrem Namenstag verteilte Amandine wie in jedem Jahr Kärtchen, auf denen nichts außer ihrem Namen stand. AMANDINE stand da also, aber die Leute, denen sie die Kärtchen aufdrängte, ahnungslose und völlig unschuldige Passanten, hielten Amandines Kärtchen für eine Werbemaßnahme, dachten, dass sie in den folgenden Wochen schon erfahren würden, ob Amandine ein neuer Telefonanbieter oder ein neues Schnellrestaurant sei, und so verschwanden an Amandines Namenstag raue Mengen Amandinekärtchen auf Nimmerwiedersehen in Einkaufs-, Hand-, Mantel-, Jacken-, Hosentaschen, gelegentlich auch in städtischen Mistkübeln oder gar im Kehrichtwagen eines städtischen Straßenkehrers. Als alle Kärtchen verteilt waren, kehrte Amandine zufrieden heim, wie schon die ganzen Jahre hindurch hatte sich auch in diesem Jahr niemand das Kärtchen in seine Geldtasche gesteckt oder es seiner Visitenkartensammlung hinzugesellt.

(Thema: Portrait)

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