Darf's ein bisserl
Die Frage hätte mich stutzig machen sollen, denn hinter welcher ordentlichen Feinkosttheke wird schon „Darf’s ein bisserl weniger sein?“ gefragt, aber ich war wohl zu sehr in Gedanken gewesen, um mit einem strammen „Nein!“ zu reagieren, vielmehr habe ich vermutlich freundliche Zustimmung genickt, als ob man mich „Darf’s ein bisserl mehr sein?“ gefragt hätte. Ich war so sehr mit den Vorbereitungen für die sonntägliche Festivität beschäftigt – Hatte ich genügend kleine Aufmerksamkeiten zusammengesucht? Waren die Verstecke gut gewählt? War der Tischschmuck komplett? Stimmte die Farbharmonie oder sollte ich doch ein anderes Tischtuch auflegen? –, dass mir auch das geringe Gewicht des Päckchens nicht auffiel, und so kam es, dass ich erst am nächsten Tag und bei den letzten Vorbereitungen begriff, was ich am Vortag eigentlich gefragt worden war. Da war es allerdings zu spät: Als ich das Wurstpapier auffaltete, fand ich bloß ein einziges, hauchdünn geschnittenes Schinkenblättchen vor. Dass ich es mit in Röschenform gebrachten Radieschen und aufgefächerten Gürkchen garnierte, nützte nichts und auch die in meiner Verzweiflung halbierten und mit Mayonnaisetupfern zu Gesichtern verzierten Eier täuschten niemanden darüber hinweg, dass meine Schinkenplatte magerer als mager war. Wodurch sie sich allerdings, wie mir auffiel, als ich aufstand, um eine neue Flasche Wein zu holen, aufs Deutlichste von dem unterschied, das als Gästeschinken auf meinen Stühlen saß. Die absolute Menge stimmte also, nur die Verteilung des Schinkens war gewissermaßen in Richtung Hosenboden verrutscht. Diese Beobachtung brachte mich nicht nur wieder ins Gleichgewicht, sondern stimmte mich auch so heiter, dass ich meinen Ruf als charmante Gastgeberin auch an diesem schwierigen Tag mit Bravour verteidigen konnte.
(Thema: Wir erfinden neue Gattungen / Indubiosität)
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ahg - 8. Apr, 09:09