Sonntag, 14. Mai 2006

Denkmal

Wie’s der Teufel will, hatten sich zwar alle und tatsächlich auch am selben Platz eingefunden, aber ein jeder an einer anderen Stelle. Sie duckten sich in Hauseingänge und hinter parkende Autos, ganz Verwegene hockten sogar im Schatten der Büsche, die das Denkmal umstanden, um das herum der Platz angelegt worden war. Ihr Auftreten war unauffällig, dezent und angemessen gewesen, selbst dem schärfsten Beobachter wäre entgangen, dass sich gut ein Dutzend zusätzliche Personen auf den Platz begeben hatten, und genau so war es seinerzeit auch geplant und in den Gutenbrunner Beschlüssen festgeschrieben worden.

Zwischen Fußgängern, Rad- und Autofahrern saßen sie also gut versteckt und warteten aufeinander, während alles Andere seinen gewohnten Gang ging: Am Sockel des Denkmals hatte sich ein Liebespärchen niedergelassen, küssend, als ob es kein Morgen gäbe, ein plärrendes Kleinkind stand wie angeleimt vor der Auslage eines Spielwarengeschäfts, seine Mutter rief: „Ich geh jetzt nachhaus, wenn du nicht kommst, geh ich allein!“, ein Radfahrer rief einem Autofahrer „Du Wichser!“ hinterher. Ansonsten lag über dem Platz der übliche Frequenzsummton, das gute Dutzend, das sich so erfolgreich in unauffälligste Warteposition gebracht hatte, war Mucksmäuschen still. Auch das war seinerzeit in den Gutenbrunner Beschlüssen festgeschrieben worden.

Auf den Tag genau 24 Jahre war es her, dass dieser Treffpunkt ausgemacht worden war, nach diesen 24 Jahren sollte das Denkmal, das nach wie vor beherrschend im Zentrum des Platzes stand, endlich fertig gestellt werden. Nur wenn alle wieder zusammenkämen, die seinerzeit genau dort gesessen waren, wo jetzt das Liebespaar saß – noch immer küssend, was das Zeug hielt –, und die Gutenbrunner Beschlüsse unterschrieben hatten, würde dem Denkmal die letzte Schicht abgeschlagen werden, auf dass zum Vorschein käme, was sie da eigentlich aufgestellt hatten. Jung, wie sie damals gewesen waren, hatten sie sich nämlich in Geheimniskrämereien gefallen, hatten dem Denkmal die letzten Konturen verweigert, was ihrem Tun jede Menge Symbolkraft verlieh, Symbolkraft, die ihr Tun weit über die Banalitäten des Alltäglichen hinausführen sollte, und für Einige von ihnen hatte das auch geklappt. Die Anreise manch Einer und manch Eines war dementsprechend ziemlich weit gewesen, wobei gerade diejenigen, die im Lauf der Jahre am weitesten weg gekommen waren, nun am längsten ausharrten. Da wurden schmerzende Füße und eingeschlafene Beine ignoriert, da erstarrten Kreuze zu Salzsäulen vor lauter Stillstehen, da verspannten sich Nackenmuskeln, bis sie hart wie auf Schultern genagelte Bretter waren. Aber schon war das gute Dutzend nicht mehr vollzählig, die in Gutenbrunn Ansässigen hatten bereits aufgegeben, auch nur einen Einzigen der Anderen zu erspähen, und als es zu regnen begann, schlichen auch diejenigen, die aus der Umgebung angereist waren, mit krachenden Gliedern und gesenkten Köpfen in die Seitengassen des Platzes zu ihren Fahrrädern und Autos. Erst als ein wahrer Wolkenbruch auf die Letzten der Wartenden herabfiel, kam auch in sie Bewegung. Als ob sie der Regenguss am Weg ins Büro erwischt hätte, eilten sie zwischen den Schirmen der Passanten zu ihren Fahrzeugen oder telefonierten, nun unübersehbar mitten im Hauseingang stehend, nach einem Taxi.

Das Denkmal aber wurde von den Regenmassen, die aus dem Himmel herunterschwappten, förmlich überschwemmt und schließlich von einem Hagelschauer, der sich gegen Ende des Wolkenbruchs in den Regen mischte und ihn schließlich ablöste, so stark beschädigt, dass es wenig später der Stadterneuerung zum Opfer fiel. Der schimpfende Radfahrer war schon längst dem Auto hinterher und vom Platz gefahren, auch das Kind vor dem Spielzeuggeschäft war seiner Mutter schon längst gefolgt, mit dem Abbruch des Denkmals verschwand nun aber auch das Liebespaar, das bis dahin vollkommen unbeeindruckt von Regen und Hagel und städtischen Denkmalsbegutachtungskommissionen innig küssend verblieben war.

(Thema: Wir erfinden neue Gattungen / Wegrandbigotterie)

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