Dienstag, 29. August 2006

Sturmschaden

Kurz bevor dem toskanischen Terracotta-Engelchen, das aus einem reich blühenden Rosenbusch herausragte, der seinerseits aus dem Zentrum einer zu einer Schnecke gewundenen Buchsbaumhecke in die Höhe strebte, ein Terrakotta-Flügelchen wie vorgesehen abbrach, kam heftiger Wind auf.
„Da spielen wir den Hurrikan drunter!“, rief Stratmann, der das Geschehen sowieso am liebsten nach Florida verlegt hätte, weil er am liebsten weit ab vom Schuss arbeitete und weil ihm unter Palmen immer die besten Ideen kamen – auch und gerade, wenn es um einen Film über die Heimat ging. „In der Abwesenheit ist die Anwesenheit immer am deutlichsten!“, hatte er auch mehrfach versucht, seinen Florida-Wunsch den Geldgebern gegenüber zu untermauern, aber seine Reden hatten kein Gehör gefunden, sie waren an den wie Pistolen gezückten Brieftaschen, Kredit- und Visitenkärtchen derer zerbrochen, die das Sagen hatten (wie schlecht gebrannte Terrakotta-Flügelchen zerbrachen sie, könnte man sagen und damit für ein wenig exklusives Flair sorgen, wie man es beispielsweise in einem der führenden Wiener Gartengeschäfte direkt am Ring kaufen kann). So musste er auf den Flug nach Florida verzichten und sich mit seinen mittelmäßigen, in der Heimat geborenen Heimatideen begnügen. Zum Beispiel dem akustischen Florida-Hurrikan, den sowieso keiner bemerken würde.

Natürlich sollte der Heimatfilm keine zuckerlrosa Sache werden, die Geldgeber waren schließlich keine Hinterwäldler und wollten als Mäzene und nicht als Geldgeber auftreten, dennoch forderten sie, dass sich der Film durch ein – trotz allem – vorsichtig zu bejahendes Ende auszeichnen sollte: „Perspektive, mein Lieber, vergessen Sie bei aller Kunst nicht die Perspektive! Wir sind ja nicht nur ein Kunst-, sondern auch ein Tourismusland und irgendwer muss euch Künstler ja auch bezahlen!“

„Ich bin doch nicht ihr Heinzi!“, erboste sich Stratmann an einem der Künstlerstammtische, an denen er seine Abende verbrachte, deshalb warf er sich mit dem Drehbuchschreiber, wie man in Wien sagt: auf ein Packl, was gar nicht schwer war, denn der Drehbuchschreiber fühlte sich sowieso chronisch unterbewertet, was ihn zu einem willigen Objekt Stratmanns machte.

Der so unter Federführung Stratmanns gemeinschaftlich entworfene Film spielte zu Beginn in Wien, weil Wien die Hauptstadt ist und weil das Urbane als Heimat einfach in den Film hinein musste. Der Regisseur war schließlich ebenso wenig provinziell wie seine Geldgeber, auch wenn sie ihn nicht nach Florida fahren ließen. Nach etlichen, fahrig wirkenden Schwenks über die Fassaden von Gründerzeithäusern und die Ringstraßengebäude fand die Kamera endlich, was sie gesucht zu haben schien, die Wiener Börse. Großaufnahme von der Station des D-Wagens aus. Wie ein Versehen sollte es wirken (Stratmann notierte sich, diesen Punkt noch einmal mit dem Cutter zu besprechen, noch wirkte der Schwenk zu gewollt!), dass der Kamera- und damit der Zuseherblick nach rechts unten und ums Eck rutschte, sodass jenes, bereits erwähnte Gartengeschäft im Keller der Börse ins Bild kam.
„Genial, genial!“, rief der Drehbuchschreiber, der sehr schnell zu Stratmanns Freund geworden war, und entzückte sich an der Subversivität des Gemeinschaftsprojekts. Aufreizend langsam folgten nun Bilder aus dem Inneren des Gartengeschäftes, wobei nicht nur die Pflanzen, sondern auch die ebenso exquisiten Einkaufspersonen, die zwischen den hübsch drapierten Blumentöpfen und Gartengestaltungsobjekten umhergingen, ins Bild kamen. Einige der Einkaufspersonen waren natürlich von Stratmann eingeschleust und mit bestimmten Verhaltensanweisungen versehen worden, und eine von ihnen kaufte am Ende der Sequenz jenen toskanischen Terrakotta-Engel, dessen Flügel im weiteren Verlauf zerbrechen musste. Die Kamera heftete sich nun der Terrakotta-Einkaufsperson den ganzen Weg bis zu ihrem, von Stratmann angemieteten Landhaus an die Fersen. Im Kofferraum ihres ebenfalls extra angemieteten Jeeps fanden sich übrigens auch noch ein paar Töpfe mit Hortensien (mit großen rosa und blauen Blütenkugeln), wie sie seit einigen Jahren die Oleander als Garten-Must abgelöst hatten. Das wusste Stratmann, weil er selbst einen kleinen Garten in der Nähe Wiens besaß, wenn er auch seit längerer Zeit nicht mehr dort gewesen war. Nach der enthusiastischen Anfangszeit, aus der er sein Gartenwissen bezog, war nämlich eine gewisse Ernüchterung eingetreten, die wohl auch damit zu tun hatte, dass sein Garten wie auch das Häuschen ziemlich heruntergekommen waren und es ihm an Geld und Freude an der Gartenarbeit wie auch an einem wie auch immer gearteten Renovierungsimpetus fehlte.

Die Geldgeber waren, als sie die Endfassung des Films vorgeführt bekamen, sehr zufrieden mit dem Ergebnis, auch der unter tosendem Sturm brechende Engelsflügel (natürlich merkte niemand, dass er einen Florida-Hurrikan hörte) wurde goutiert, wenngleich einer der Zuseher anmerkte, dass der Flügel nicht von selbst brechen, sondern dass ein vom Sturm abgerissener Ast auf den Engelsflügel fallen sollte. Schließlich würde der Film ja nicht den Eindruck erwecken wollen, dass die in jenem, doch sehr bekannten Wiener Innenstadt-Gartengeschäft erstandenen Objekte nicht sturmsicher seien. Praktisch allen gefielen die Gartenaufnahmen, die auch den Charme des Unperfekten zu versprühen wussten, indem sie beispielsweise Bretterstapel und Brennnesselstauden zwischen Haufen von Dachziegelbruchstücken dezent ins Bild setzten. Mit der Auswahl der Interviewpartner und dem, das sie – in ihren Gärten stehend – über ihre Heimat sagten, war man zufrieden, besonders positiv wurde dann aber das Filmende aufgenommen, wo in der Art eines Daumenkinos und mit dem Geräusch einer zurücklaufenden Tonspule unterlegt Standbilder aus allen Passagen des Films in chronologisch zurücklaufender Abfolge zu sehen waren, sodass der Film mit Oper, Museen, Parlament, Burgtheater, Universität und schließlich einigen Jahrhundertwende-Hausfassaden aufhörte.

Später, am Künstlerstammtisch und beim ersten Viertel Wachauer Riesling, verdrehte Stratmann die Augen, sprach er von der Kleinmütigkeit der Geldgeber und von der schweren Last, die er als Künstler zu tragen habe, weil es ihm an richtiger Resonanz fehle. Weil sich diese Geldmenschen doch einen Scheißdreck für den Film interessierten, als Film nämlich, wobei er das Wort „Film“ betonte. Ja er rief dieses Wort aus, als ob das Wort bereits alles sagte, das sich zu diesem Thema sagen ließ. Der Drehbuchautor stimmte ihm ohne jede Einschränkung zu. Die Geldgeber saßen derweilen auf der Terrasse eines großen, aufwändig renovierten Bauernhofes und schwadronierten über das Seelenleben dieser komplizieren Künstler, die letztlich arme Hunde seien. Weil sie zu den ebenso einfachsten wie umwerfendsten Gefühlen wie jenen, die sich einstellten, wenn man den Blick über die Hügel schweifen ließe, nicht in der Lage seien. Weswegen sie, auch darin war man sich einig, die Sache der Heimat am glaubwürdigsten vertreten könnten. „Nur wer die Sehnsucht kennt, ...“, hob Einer zu zitieren an. Man nickte in die darauf folgende Stille und bevor dem Mahl zugesprochen wurde, genoss man noch kurz den Anblick der vom rosa Abendlicht beschienenen Wolkenränder. Unten auf der Terrasse war es so gut wie windstill, weiter oben schien es jedoch ziemlich stürmisch zuzugehen, denn die Umrisse der Wolken veränderten sich rasch und ohne ein einziges Innehalten, was, wie betont werden muss, ein Zufall war. Wie es auch ein Zufall war, respektive der Schwächung des großen Kastanienbaumes durch das Wirken der Miniermotte zuzuschreiben ist, dass einer der Hauptäste im schlagartig nun auch auf der Erde einsetzenden Sturm abbrach und das mit Originalziegeln neu eingedeckte Dach des Bauernhofes durchschlug. Die zwischen Lavendelpolster gebettete Terracotta-Kugel, die sich der Bauernhofbesitzer aus einem Italienurlaub mitgebracht hatte, blieb – als ob ein Schutzengel sie behütet hätte – ebenso unversehrt wie die gesellige Runde auf der Terrasse. Vorzugsweise aus letzterem Grund endete dieses Ereignis, als der Schreck abgeklungen war, unter dem Titel „Sturmschaden“ als Versicherungsfall. Weil aber Geld abergläubisch macht und man auch Schutzengel nicht überstrapazieren soll und weil ohnehin der Winter vor der Tür stand, beschlossen die Geldgeber, Stratmanns Film zumindest vorläufig auf Eis zu legen.

(Thema: Naturalie)

Mittwoch, 23. August 2006

Aussicht

Aussicht

Samstag, 19. August 2006

Lesen Sie das als Geschichte über Leidenschaft, beispielsweise die Leidenschaft zum Schreiben

Verhoegen wurde immer blasser, was niemanden wunderte, schließlich wurde er so gut wie jeden Tag zur Ader gelassen. Sein Arzt, ein untersetzter Mann mit feistem Gesicht und Brüsten, die einer Frau gut und gerne angestanden hätten, hatte zu dieser Methode gegriffen, weil Verhoegen, ein Naturfanatiker, jede andere Art der Behandlung abgelehnt hatte. „Das Blut muss raus, das ist alles“, hatte er dem Arzt erklärt, und nun würde es allem Anschein nach bald so weit sein, denn viel Blut konnte nach Wochen der Behandlung nicht mehr in Verhoegen stecken.

Der Arzt, zunächst mehr als skeptisch, vor allem aber angeekelt von den, den Aderlass vollstreckenden Blutegeln, hatte mit der Zeit jedoch Gefallen daran gefunden, die kleinen Tierchen auf Verhoegens Körper – Haut und Knochen, wie man so schön sagt – anzusetzen und zuzusehen, wie sie sich, mit Verhoegens Blut gefüllt, um ein Vielfaches vergrößerten. Immer schwerer fiel es ihm, Verhoegen in dem Privatzimmerchen, das er sich ausbedungen hatte, zurückzulassen, um sich seinen anderen Patienten zu widmen, immer länger blieb er neben der weißen Krankenpritsche stehen, die Augen wie festgesaugt an den Egeln.

Lange würde das nicht mehr gehen, das fiel auch ihm auf, zu blass war Verhoegen, zu eingefallen war seine Haut und auch die Vitaminsäfte aus frischem Obst und Gemüse und das Glas Milch, das er seinem Patienten regelmäßig verabreichte, würden daran nichts ändern. Was Verhoegen ursprünglich zu ihm geführt hatte, wusste der Arzt nicht mehr, über dem so heftig vorgetragenen Begehr und dem unmittelbar anschließenden Disput über das Problem der Blutegelbeschaffung hatte er vergessen, die Patientenkarte auszufüllen, aber das war ihm, wie er in einem Anflug von Bestürzung bemerkte, mittlerweile gleichgültig geworden. Ihn interessierte nur noch Eines: Verhoegens Ankunft in der Praxis, auf dass er sich ins Aderlasszimmer begebe und der Arzt ihm die Blutegel ansetzen könne. Schwach wie Verhoegen war, zuckte er nun nur noch verschwindend gering, wenn ein Egel zubiss, und es dauerte immer länger, bis sich die ihrem Grunde nach possierlichen Tierchen, wie es dem Arzt nun erschien, an Verhoegen gütlich getan hatten, aber je versteckter die Hinweise auf das waren, das da auf der weißen Pritsche stattfand, umso heftiger verfiel der Arzt dem Schauspiel. Er begann, seine eigentliche Arbeit zu vernachlässigen, um so viel Zeit wie möglich an Verhoegens Krankenpritsche verbringen zu können. Außer der Beschaffung der Blutegel interessierte er sich jenseits Verhoegens Krankenzimmerchen für nichts mehr. Er überredete seinen Patienten dazu, nicht mehr nachhause zu gehen, schließlich sei es wesentlich praktischer, gleich in der Praxis zu bleiben, er sei ohnehin zu hinfällig für umständliche Ortswechsel geworden, und auch er selbst verließ die Praxis nicht mehr, um Verhoegen immer unter Beobachtung haben zu können. Da er nur sehr selten ein kleines Gläschen Saft oder Milch von Verhoegens Ration abzweigte und ihn das Vollkorngebäck, das Verhoegen seit seinem Umzug in die Praxis geliefert bekam, zu sehr in der Kehle kratzte, begann der Arzt abzumagern und wurde, seinem Patienten gleich, immer blasser.

Seine ehemalige Sprechstundenhilfe, eine anhängliche Person, die ihm alle drei Tage Obst, Gemüse und Milch brachte, gelegentlich die Wäsche mitnahm, um sie gewaschen und gebügelt ein paar Tage später zurückzubringen, die auch den Mistkübel leerte und die Gläser wusch, wies ihn mehrfach darauf hin: „Sie machen sich kaputt mit diesem Verhoegen! Schauen Sie sich doch einmal in den Spiegel, Sie sind ja vollkommen fertig!“ Der Arzt nahm diese Bemerkungen mit Rührung zur Kenntnis, aber das war es schon. Was sollte er dieser ebenso gutherzigen wie einfältigen Person auch verständlich machen, wie faszinierend der Aderlass des Verhoegen war. Er lehnte alle ihre Angebote ab, ihm wenigstens ein vernünftiges Essen mitzubringen, der Geruch irgendwelcher, womöglich warmer Speisen hätte ihn allzu sehr abgelenkt, und gerade jetzt brauchte er alle seine Sinne, um sich ein Phänomen erklären zu können, das sich unmerklich entfaltet haben musste, das nun aber tagtäglich unübersehbarer wurde: Verhoegen bekam Farbe ins Gesicht und Fleisch auf die Knochen. Und je intensiver sein Arzt die Blutegel fixierte, keine Sekunde ließ er sie aus den Augen und nach wie vor saugten sie ein Vielfaches ihres ursprünglichen Gewichtes aus Verhoegen heraus, umso schneller schien diese Verwandlung vonstatten zu gehen. Sogar als der Arzt, nun auch von wissenschaftlichem Eifer gepackt, dem Patienten die Säfte, die Milch und sein geliebtes Vollkorngebäck entzog, um es selbst zu verzehren, änderte sich nichts: Verhoegen wurde mit jedem Tag kräftiger, schon ließ sich ein kleiner Fettansatz unter der Brust erkennen, sein Arzt hingegen verfiel und das ebenso schnell.

Blass und klapprig war er, wenn er seiner ehemaligen Sprechstundenhilfe die Praxistür öffnete, bis eines Tages die Geduld der Frau erschöpft war. Sie verschwendete keine Worte mehr, sondern marschierte geradewegs in Verhoegens Privatzimmer, warf den Mann von seiner Krankenpritsche – was bei dem mittlerweile kräftigen Kerl gar kein leichtes Unterfangen war – und legte an seiner statt den Arzt, der für jeden Widerspruch bereits zu schwach war, auf die weiße Lederpolsterung. Verhoegen zog, als er seines Arztes ansichtig wurde, ein Gesicht des Bedauerns, das ihm die ehemalige Sprechstundenhilfe jedoch nicht abnahm. „Verschwinden Sie endlich, Sie Blutsauger!“, herrschte sie ihn an, und sie versperrte die Tür, als er – kräftigen Schrittes – die Praxis verlassen hatte. Dann suchte sie alle Räume nach den Gläsern ab, in denen der Arzt die Blutegel geliefert bekommen hatte. Jedes einzelne Tierchen wurde unter Verwünschungen ins Patientenklo geworfen. Etliche Spülungen machten die ehemalige Sprechstundenhilfe sicher, dass keiner mehr auftauchen würde. Im Arztzimmer wusch sie sich die Hände, kämmte sich die Haare, legte Rouge und Lippenstift auf, wechselte ihre Ordinationssandalen in hochhackiges Schuhwerk und klapperte, die Verführung persönlich, in Verhoevens ehemaliges Privatzimmer. Obwohl der Arzt – gänzlich ermattet – schlief oder zumindest döste, setzte sie ohne langes Vorspiel zu einem Kuss an, den man ohne zu übertreiben, als einen finalen bezeichnen kann.


(Thema: Wir erfinden neue Gattungen - Indubiosität)

Mittwoch, 16. August 2006

Ein Sommerspaziergang

In einem Land, sagen wir in Katakombien, da rennt eine Frau herum mit meterlangen Armen, die wie überdimensionale Golfschläger durch die Luft rudern. Sie will eine Natur um die andere umarmen, aber die Gräser ducken sich elegant wie russische Bodenturnerinnen und die Wiesenblumen lächeln, als ob es die Katakombierin gleich gar nicht gäbe. Wie zufällig biegen sie sich ihr in diese oder jene Richtung davon. Nur die hochstieligen Wasseraufzugsstängel, an ihrer Aufgabe hart geworden, brechen, von einem Arm der Katakombierin getroffen, ab, begleitet von einem kurz aufspritzenden Miniaturwasserfeuerwerk. Ist sie weg, die Katakombierin, gleiten die Gräser und Wiesenblumen ohne jede Hast wieder in ihre angestammte Position der Lieblichkeit zurück, an den langen Röcken der Frau aber hängen die widerhakenden Stachelkugeln der Kletten. Die Katakombierin bleibt endlich stehen, sie schlägt ihre meterlangen, golfschlägersteifen Arme über der Brust zusammen. Ohne dass ein Fingerspitz sie berührt, treibt sie Naturluft an sich heran, sie senkt den Kopf und atmet tief ein. Ihre Seufzer, als sie die Naturluft wieder aus den Lungen heraus lassen muss, sind weithin zu hören. Die Gräser und Wiesenblumen ducken sich erneut, die wollweißen Flugschirmchen der Disteln recken sich.


(Thema: Naturalie)

Donnerstag, 3. August 2006

Der Fall von Fellingers Bar

Hoch ging es her in Fellingers Bar, da wurde auf den langbeinigen Barhockern wieder einmal so heftig herumgeturnt, dass die Lederpolsterung nur so aufquietschte. „Auf Biegen und Brechen“, entfuhr es Fellinger, den die Angst um sein Inventar gepackt hatte, und wirklich: da bogen sich die zarten Barhockerbeine auch schon. Aus Elfenbein waren sie (Fellinger war ein Exot unter den Barbesitzern, er war der Exot schlechthin!) und als ob sie die Erinnerung an die ferneren Tage gepackt hätte, bogen sich die Barhockerbeine in Stoßzahnmanier und brachten infolge den ganzen schönen Fellinger-Bar-Gedanken wortwörtlich: zu Fall. Fellinger, nach einem Toilettenbesuch noch immer in der Toilettentür stehend (wie angewachsen, so sehr fesselte ihn das Schauspiel), kam nicht zu Schaden, aber die sich auf den Hockern tummelnden Afterworkpeople plumpsten zum Platzen gefüllten Aktentaschen gleich von den Lederpölstern ungebremst auf den Marmorboden. Stumm vor Schreck lagen sie auf dem kalten Stein, das Knacken ihrer Ellen, Speichen, Schien- und Jochbeine prallte jedoch vom Marmor ab und sprang wie eine Horde schärfstens geschossener Tennisbälle zwischen den Spiegelwänden von Fellingers Bar hin und her. Da kam Bewegung in den Mann, der (seinem Instinkt folgend) mit einem Satz in die Toilette zurückflüchtete, was ihm in Folge aufs Übelste ausgelegt wurde („Ein echter Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff!“ – sofortiger Entzug der Konzession). Aufgrund der Sympathien, die er sich seines Exotismus’ wegen erworben hatte, blieb ihm das Schlimmste jedoch erspart. So musste er zwar seine gesamte Barschaft (die er unter dem Tresen und also an der Steuer vorbei versteckt hatte) wie auch seine in komplizierten Anlagemodellen verstrickten Ersparnisse herausrücken, um die Ansprüche der Afterworkschaft befriedigen zu können, ins Gefängnis musste er aber nicht. Und das wäre, man bedenke alleine die Ausstattung!, nun auch für den Privatmann Fellinger der tiefste Fall schlechthin gewesen.

(Thema: Was einem so einfallen kann)

Montag, 24. Juli 2006

Chez Lutinski

Lutinski hat sie überzeugt. Endlich. Endlich ist Millicent millimeterdick, ist Millicent millimeterdick mit Lutinskis Überzeugung überzogen wie mit einer Zitronenzuckerglasur. Sie glänzt im Kunsthallenlicht leise vor sich hin. Als sie aufseufzt – ihr tut schon alles weh von der Stille –, kriegt die Glasur Sprünge, „Bruchlinien“, sagt ein Betrachter, nickt nachdenklich und zieht weiter in Richtung Kaffeegeruch. Ein Kind steckt seinen Zeigefinger in die breiteste Bruchlinie (Andreasgraben), ein anderes polkt sich ein paar Kuchenkrümel (Herzkrümel) aus Millicents luftig aufgeschlagenem Innenleben heraus. „Hmm, schmeckt!“, will es ein drittes überzeugen. „Beeil dich doch!“ Gleich werden die Eltern kommen oder gar Lutinski selbst. Das Naschen von Kunstwerken ist schließlich verboten, das weiß jedes Kind: „Man schaut mit den Augen, nicht mit den Händen!“

(Thema: Kunst)

Donnerstag, 13. Juli 2006

Zu ebener Erd und im dritten Stock

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Texturen (eine Co-Produktion für Markus Hediger)

Wobei es sich hier um Texturen des Grauens handelt (Baustelle rund um meine Wohnung) oder aber um Ästhetisierungen zum Zwecke der Erträglichmachung?

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Montag, 10. Juli 2006

Steinbrech und Ehrenpreis

Theodor Kerners Wangensteinbrech wuchs täglich mehrere Zentimeter, er kam mit dem Rasieren gar nicht mehr nach. „Eigentlich sollten Sie sich gar nicht rasieren“, sagte seine Nachbarin, eine passionierte Gärtnerin, „denn dieses Wangensteinbrech wächst wie jedes Unkraut umso schneller, je öfter man es schneidet.“ „Wildkraut, meine Liebe, Wildkraut“, verbesserte sie ihr Mann, ein ebenfalls passionierter Gärtner mit Hang zum Ökologismus, aber seine Frau blieb hart: „Wangensteinbrech ist Unkraut und sonst nichts, Frau Siegbert sagt das auch, und Unkraut muss mit Butz und Stängel ausgerissen werden, da hilft nichts Anderes, das können Sie mir glauben, Herr Kerner!“ Sie blinkerte Kerner mit ihren Ehrenpreisaugen an, aber der war gerade dabei, sich in Grund und Boden zu schämen. Er hatte bis zu jenem Gespräch am Gartenzaun nicht gewusst, dass er und sein Wangensteinbrech zum Gespräch der kleinen Stadtrandsiedlung geworden waren. Und so in Grund und Boden versenkt nahm sich das Wangensteinbrech nun in der Tat auch nicht mehr merkwürdig aus, vielmehr waren es Theodor Kerners viel zu helle Stirn und seine weit aufgerissenen Augen, die dem kleinen Rasenstück vor seiner Haushälfte ein merkwürdiges Aussehen verliehen. Seiner Arbeit als Justizwachebeamter konnte er nicht mehr nachkommen, hätte er doch den Inhaftierten – sich so gut wie unterirdisch fortbewegend – ein wahrlich schlechtes Beispiel abgegeben. Aber er brauchte auch keine Arbeit mehr, denn sein Nachbar, der sich von den so unnatürlich starrenden Augen in Kerners Vorgarten irritiert fühlte, schloss sie ihm eines Tages, und als er Kerners nun leer stehende Haushälfte erworben hatte, nahm sich seine Frau, immer noch eine passionierte Gärtnerin, des Wangensteinbrech an, das sich inmitten des hoch gewucherten Rasens augenscheinlich gar nicht am rechten Platz fühlte. In einem Baumarkt erwarb sie eine ansehnliche Menge Steine in verschiedensten Größen, Formen und Färbungen und deckte den ehemals Theodor Kernerschen Vorgarten damit ab. Nicht nur, dass auf diese Weise das letzte Stück Kopf des ehemaligen Nachbarn verschwand, entwickelte sich nun auch das Wangensteinbrech aufs vorteilhafteste, es dauerte nur eine Saison, da lag schon ein wahrer Teppich aus zarten, weißen Blüten über dem Steingarten.

(Thema: Naturalie)

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