Einbruch in den Westen

Einbruch in den Westen // Leichter Sonnenschein von Ost, der General // Am Tisch sitzt der Direktor, ein Serviett am Schoß // Gefältelt hat ihn die Mamsell // Die Kleine mit der flinken Hand, das sagt der Wirt, der ein // Gourmet ist und ein Koch steht in der Küch // Kocht Zauberfeines auf Befehl, der General // Heiß ist’s im Osten // Kalt auf der Terrass // Die Fliesen brechen unter dem // Der General schwitzt Blut // Aus Westerland weht Wind // Der Wind zur Serviett, so will’s die Sitt, so will’s der Brauch // Ein Vogel ist’s, ein Kranich // Flüstert die Mamsell, am Arm die Platten mit dem Rind // Mit zartem Blutkern wird serviert // Die Teller sind gewärmt, die Fliese springt // Um die Mamsell // Der Westen bebt // So wünscht die Kleine mit der flinken Hand und fältelt wieder // Serviett um Serviett // So nett der General
ahg - 19. Jun, 13:54

Eine Textbesprechung

Vielen Dank an Rivka, die die folgende Textbesprechung verfasst hat. Selten noch habe ich das Meinige eines Textes in einer Besprechung so detailliert und umfassend wiedergefunden. Das motiviert! :-)

(...)
Wie erzielt der Text seine Wirkung?

Zum Beispiel eben genau durch die Verwendung der // statt des Zeilenumbruchs; von dem es ja auch verschiedene Abstufungen zwischen Trennung + (Ver-)Bindung gibt; ohne dass man allerdings die Form der Poesie verlässt, die es dem Inhalt leichter macht, als Poesie daher zu kommen, besonders heute; der Text verzichtet also auf bedeutungsschwangere Leer-(Lehr-)räume, weil nicht die geringste Notwendigkeit besteht, eine höchstmögliche inhaltliche Bedeutung optisch zu unterstützen, vorzutäuschen (dies ist ein Text über Täuschung ohne Täuschung) oder aufzufüllen; alles, was aber nicht hinzufügt, nimmt weg und so wurde auf die Hinzufügung leerer Räume verzichtet, der Text selbst verbietet sich leere Räume, überspringt die // - Hürden ebenso mühelos oder kriecht (tückisch, der Text entbehrt nicht der Tücke) unter ihnen durch, der General, der, im Westen nichts Neues, an Krieg denken lässt wird hinterrücks zum Direktor, jawoll, Herr Generaldirektor, der auch an Krieg denken lässt, aber nur, weil ihm noch der General im Buckel sitzt, und so hat er mit ihm den Krieg ins private Idyll mitgenommen, einen Huckauf, von keinem Zeilenumbruch gehindert, ein Serviett hat er am Schoss, der Serviett, damit man auch ganz + gar nicht sicher ist, dass die Mamsell nicht am Ende doch den Direktor gefältelt hat mit flinker Hand, von der auch der Wirt weiss, der in solchen Dingen ein Gourmet ist, sowie die Mamsell die Marketenderin des Westens, Kocht Zauberfeines auf Befehl, der Koch, oder doch der General, zu dem der Direktor unvesehens wieder changiert, vielleicht, weils im Osten, von dem gerade noch leichter Sonnenschein berichtet wurde (vorbei, ach vorbei, mit Perestroika) wieder heisser wird, da wird der Direktor eben wieder zum General, und der Boden auf der westlichen Terrass wird mürb unter den Füssen, unter dem, unter wem? Unter dem Fakt der einbrechenden Kälte, oder unter dem General unterdessen, kalt auf der Terrass, unter dem bedrohlichen a-Klang schwitzt er Blut, der General, auch weil der Wind jetzt von Westen weht, da weht ein anderer Wind, der Wind zur Serviett, so will's die Sitt, so will's der Brauch, dass der Wind sich in Servietten verfängt, oder in dem, was schützen soll die Kleidung, die weisse Weste vor herabtropfendem Überfluss, und dann hängt der Serviett oder die Serviette (zu Diensten) ihr Mäntelchen in den westlichen Wind, der spielt Origami und fältelt einen Hiroshima-Kranich, flüstert die Mamsell, hat schon das Fleisch mit dem zarten Blutkern (!!!) auf dem Arm, aber noch wird im Westen auf gewärmten Tellern serviert, die Fliese springt um die Mamsell, man sieht den Einbruch und auch den Ausbruch, die herumspringenden Fliesen um die Mamsell, die Realität ist so real, dass sie sur-real wird, das Kippen der Schärfe in die Überschärfe, die Augen ein zweites Mal geöffnet, aber der Westen bebt und isst, ungeachtet dessen, doch des Ambientes geachtet, von gewärmten Tellern, während die Mamsell sich als heimliche Komplizin des Bebens erweist, während sie, es herbeiwünschend, mit flinker Hand dem General Dienste unterfältelt, ihn vor Verunreinigungen schützt oder fältelt sie subversive Kraniche, weil er gar so nett ist, der General?

Der Klang dieses Textes ist phänomenal; ich weiss im Augenblick nicht, wer gesagt hat, durch Mozarts Musik könne man noch das Geklirr des Tafelgeschirrs hindurchhören, aber genau das fällt mir dazu ein; der Doppelbödigkeit der Situation entspricht die der Struktur, die so fein gesponnen - Glassprachfäden - wie möglich ist, ohne an irgendeiner Stelle zu zerbrechen, was für die Form, zu der gehören: Verwendung der Vokale: Einbruch, leicher, Sonnenschein, Kleine, Zauberfeines, das ist ja fast schon kabbalistisch ; Zaubersprüche wie "Der Wind zur Serviett, so will's die Sitt, so will's der Brauch" gilt wie für den Inhalt, aber das kann man gar nicht trennen, Doppeldeutigkeiten des Sinns durch Wort + Zeile hindurch, "Leichter Sonnenschein von Ost, der General" - wittert er Morgenluft, der General, oder ist er der Sonnenschein von Ost, der als Direktor am Tisch sitzt auf der brüchig gewordenen Terrasse des Westens? Und ein Serviett wird nicht vom Wind gefältelt, da ist es dann wieder zur Serviett, zu der der Wind weht, nicht zum Serviett, ist man denn hier gar keiner political correctness sicher? Da muss man doch nur den Spuren des Buchstabens "O" folgen durch den Text, auch das ein formales Kunst-Stück, oder ein Inhaltliches? Denn hier sind Form und Inhalt verklöppelt, und wie beim Klöppelwerk lässt sich nicht der Faden vor der Leerstelle loben.

Auffällt das Fehlen von Löchern.

Nur eines noch: warum stolpere ich, jedesmal von Neuem, wie unversehens, über das Wort "zauberfein"?

So weit meine eher assoziative Würdigung, die dem Text nicht gerecht werden kann, aber wie könnte sie das?

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