Adieu
Sie hat dabei geweint, ich habe ihr Aufschluchzen zwischen den Worten genau gehört: Manchen Traum kann man nur alleine träumen, hat sie gesagt. Vielleicht sagte sie aber auch: Manchen Traum will man nur alleine träumen. Genau weiß ich das jetzt nicht mehr, aber dass sie dabei geweint hat, das weiß ich. Ganz egal, was ihr sagt, sie hat geweint und nicht triumphiert. Und genervt oder gelangweilt war sie schon gar nicht. Sie war traurig, als sie Schluss mit mir gemacht hat. Klar? Denn SIE war es, versteht ihr, SIE war es und nicht ich. Was für ein Traum?, habe ich gefragt, um irgendetwas zu sagen, denn man kann doch nicht einfach schweigen, wenn man abserviert wird, aber da hatte sie das Gespräch auch schon beendet. Sie, nicht ich, ich muss das noch einmal sagen, weil ihr mich anseht, als ob ich euch Märchen erzählte. Als ob ich je der Typ gewesen wäre, der Märchen erzählt! Auch das war sie – mit ihren Märchenbüchern und Traumheften, mit ihren tausend Zetteln, auf ihnen klebend: Figuren und Figurenteile, soviel Klebstoff, dass sich die Seiten verzogen wie dicke, runzelige Haut. Ich hätte sie nie verlassen, ich hing an ihr mehr als an jeder anderen. Auch das wisst ihr, wie ihr alles wisst, aber nicht wissen wollt. Weil ihr lieber das ganze Wissen in mich hineinphantasiert (phantasiert, NICHT träumt!, dass das klar ist!), damit ich alles und ihr kein Wissen habt. Das würde euch so gefallen! Ihr allerdings wäre das alles vollkommen egal und auch das wisst ihr, weil ihr doch immer schon alles egal gewesen ist. Alles außer ihrem Traum, den ich hier und jetzt nicht nennen werde. Extra. Damit ihr ihn alleine wissen müsst. Wie ich ihn weiß. Wie ich sie weiß. Weinend weiß, als sie mich abgeschossen hat mit diesem einzigen kleinen Pfeil aus ihrem Büchlein. Nie hätte ich gedacht, dass er auch nur einen Meter weit fliegen kann, verklebt wie er ist, dieser Traumpfeil, den ihr kennt, den ihr besser kennt als ich, weil ihr ihn schon länger kennt als ich, der ich neu hinzugekommen bin. An der Hand hatte sie mich genommen, warm und trocken war die Hand, und wie ein Luftballon so leicht bin ich emporgestiegen an ihr und ihr habt gegafft, dass es nur so eine Freude war. Und jetzt hat sie mich abgeschossen. Ihr wisst das. Wie ihr alles wisst und wie ich weiß, dass sie geweint hat. Sie weinte, als sie sagte, woran ich mich jetzt, wo ich in eure weit geöffneten Augen schaue, die kein Lidschlag auch nur Sekundenbruchteile verdeckt, genau erinnere: Manchen Traum muss man alleine träumen.
ahg - 4. Mai, 17:22