Der Kaiser schickt Soldaten aus
Das Dach vom Schuppen hat sich den Schnee in einem einzigen Fieberschauer heruntergeschwitzt, die Schweißtropfen schlagen in die Dachrinne. In der Ferne jault eine Motorsäge auf. La Passionata steht vor der Haustür und raucht eine Zigarette, später dann noch eine. In Wirklichkeit gibt es natürlich schon lang keine Zigaretten mehr, nicht im Fernsehen und nicht in den Büchern, aber bei La Passionata und im Dorfwirtshaus gibt es sie noch. Das regelmäßig wiederkehrende Kratzgeräusch muss von La Passionatas Augen kommen, die so trocken sind, dass sie jeden Lidschlag spürt. Sie geht ins Haus und löst eine Aspirin-C-Tablette auf. Eine Erkältung, ein grippaler Infekt, eine Grippe, Geronimo telefoniert. „Schau’n wir mal, was wir da machen können“, sagt munter der Herr Doktor. Er hat nicht einmal seinen Mantel ausgezogen. Warum die Doktoren immer so eine deutliche Laune haben müssen, fragt sich La Passionata, während der Doktor in ihren Mund schaut (wo ihr doch die Augen ausgetrocknet sind!). Entweder deutlich munter oder deutlich grantig, deutlich gelaunt aber auf jeden Fall. La Passionata schaut undefinierbar vor sich hin. Draußen wird es derweilen dunkel und frostig, La Passionata schließt die Augen. „Das Dach vom Schuppen wird morgen wieder weiß sein, vielleicht werden sogar Eiszapfen von der Dachrinne herunterhängen“, sagt sie zu Geronimo und hört erneut das Aufbrausen von Aspirin-C und das Klacken des Doktorköfferchens. „Meine Augen sind geschlossen, aber nicht, weil ich tot bin, sondern weil ich sie mir nicht zerkratzen will.“ Das sagt La Passionata laut, als sie die Hand in die Richtung des Herrn Doktor streckt. Er knüllt ihr ein Rezept in den Handteller. Heiß und trocken bleibt es an ihr kleben, als er endlich geht. Ein kalter Luftzug, dann ist er weg. La Passionata wischt das Papier in die Hose und tastet sich in die Küche zur Aspirin-C-Brause. Sie leert das Glas in einem Zug, sie lässt sich auf einen Küchenstuhl fallen, sie legt die Hände in ihrem Schoß zusammen, als ob sie in einem jener gestickten Bilder säße, wie sie ihre Großmutter an der Wand hängen hatte. Geronimo kocht Wasser für einen Himmelschlüsseltee. La Passionata lässt die Hände im Schoß liegen, bis sie wieder vor die Haustür geht, um eine Zigarette zu rauchen. Da ist es schon so dunkel, dass sie auch mit offenen Augen nichts sehen könnte. „Der Kaiser schickt Soldaten aus“, sagt sie halblaut vor sich hin, als sie das vertraute Geräusch des Dieselmotors hört.
ahg - 29. Dez, 18:05