Samstag, 19. August 2006

Lesen Sie das als Geschichte über Leidenschaft, beispielsweise die Leidenschaft zum Schreiben

Verhoegen wurde immer blasser, was niemanden wunderte, schließlich wurde er so gut wie jeden Tag zur Ader gelassen. Sein Arzt, ein untersetzter Mann mit feistem Gesicht und Brüsten, die einer Frau gut und gerne angestanden hätten, hatte zu dieser Methode gegriffen, weil Verhoegen, ein Naturfanatiker, jede andere Art der Behandlung abgelehnt hatte. „Das Blut muss raus, das ist alles“, hatte er dem Arzt erklärt, und nun würde es allem Anschein nach bald so weit sein, denn viel Blut konnte nach Wochen der Behandlung nicht mehr in Verhoegen stecken.

Der Arzt, zunächst mehr als skeptisch, vor allem aber angeekelt von den, den Aderlass vollstreckenden Blutegeln, hatte mit der Zeit jedoch Gefallen daran gefunden, die kleinen Tierchen auf Verhoegens Körper – Haut und Knochen, wie man so schön sagt – anzusetzen und zuzusehen, wie sie sich, mit Verhoegens Blut gefüllt, um ein Vielfaches vergrößerten. Immer schwerer fiel es ihm, Verhoegen in dem Privatzimmerchen, das er sich ausbedungen hatte, zurückzulassen, um sich seinen anderen Patienten zu widmen, immer länger blieb er neben der weißen Krankenpritsche stehen, die Augen wie festgesaugt an den Egeln.

Lange würde das nicht mehr gehen, das fiel auch ihm auf, zu blass war Verhoegen, zu eingefallen war seine Haut und auch die Vitaminsäfte aus frischem Obst und Gemüse und das Glas Milch, das er seinem Patienten regelmäßig verabreichte, würden daran nichts ändern. Was Verhoegen ursprünglich zu ihm geführt hatte, wusste der Arzt nicht mehr, über dem so heftig vorgetragenen Begehr und dem unmittelbar anschließenden Disput über das Problem der Blutegelbeschaffung hatte er vergessen, die Patientenkarte auszufüllen, aber das war ihm, wie er in einem Anflug von Bestürzung bemerkte, mittlerweile gleichgültig geworden. Ihn interessierte nur noch Eines: Verhoegens Ankunft in der Praxis, auf dass er sich ins Aderlasszimmer begebe und der Arzt ihm die Blutegel ansetzen könne. Schwach wie Verhoegen war, zuckte er nun nur noch verschwindend gering, wenn ein Egel zubiss, und es dauerte immer länger, bis sich die ihrem Grunde nach possierlichen Tierchen, wie es dem Arzt nun erschien, an Verhoegen gütlich getan hatten, aber je versteckter die Hinweise auf das waren, das da auf der weißen Pritsche stattfand, umso heftiger verfiel der Arzt dem Schauspiel. Er begann, seine eigentliche Arbeit zu vernachlässigen, um so viel Zeit wie möglich an Verhoegens Krankenpritsche verbringen zu können. Außer der Beschaffung der Blutegel interessierte er sich jenseits Verhoegens Krankenzimmerchen für nichts mehr. Er überredete seinen Patienten dazu, nicht mehr nachhause zu gehen, schließlich sei es wesentlich praktischer, gleich in der Praxis zu bleiben, er sei ohnehin zu hinfällig für umständliche Ortswechsel geworden, und auch er selbst verließ die Praxis nicht mehr, um Verhoegen immer unter Beobachtung haben zu können. Da er nur sehr selten ein kleines Gläschen Saft oder Milch von Verhoegens Ration abzweigte und ihn das Vollkorngebäck, das Verhoegen seit seinem Umzug in die Praxis geliefert bekam, zu sehr in der Kehle kratzte, begann der Arzt abzumagern und wurde, seinem Patienten gleich, immer blasser.

Seine ehemalige Sprechstundenhilfe, eine anhängliche Person, die ihm alle drei Tage Obst, Gemüse und Milch brachte, gelegentlich die Wäsche mitnahm, um sie gewaschen und gebügelt ein paar Tage später zurückzubringen, die auch den Mistkübel leerte und die Gläser wusch, wies ihn mehrfach darauf hin: „Sie machen sich kaputt mit diesem Verhoegen! Schauen Sie sich doch einmal in den Spiegel, Sie sind ja vollkommen fertig!“ Der Arzt nahm diese Bemerkungen mit Rührung zur Kenntnis, aber das war es schon. Was sollte er dieser ebenso gutherzigen wie einfältigen Person auch verständlich machen, wie faszinierend der Aderlass des Verhoegen war. Er lehnte alle ihre Angebote ab, ihm wenigstens ein vernünftiges Essen mitzubringen, der Geruch irgendwelcher, womöglich warmer Speisen hätte ihn allzu sehr abgelenkt, und gerade jetzt brauchte er alle seine Sinne, um sich ein Phänomen erklären zu können, das sich unmerklich entfaltet haben musste, das nun aber tagtäglich unübersehbarer wurde: Verhoegen bekam Farbe ins Gesicht und Fleisch auf die Knochen. Und je intensiver sein Arzt die Blutegel fixierte, keine Sekunde ließ er sie aus den Augen und nach wie vor saugten sie ein Vielfaches ihres ursprünglichen Gewichtes aus Verhoegen heraus, umso schneller schien diese Verwandlung vonstatten zu gehen. Sogar als der Arzt, nun auch von wissenschaftlichem Eifer gepackt, dem Patienten die Säfte, die Milch und sein geliebtes Vollkorngebäck entzog, um es selbst zu verzehren, änderte sich nichts: Verhoegen wurde mit jedem Tag kräftiger, schon ließ sich ein kleiner Fettansatz unter der Brust erkennen, sein Arzt hingegen verfiel und das ebenso schnell.

Blass und klapprig war er, wenn er seiner ehemaligen Sprechstundenhilfe die Praxistür öffnete, bis eines Tages die Geduld der Frau erschöpft war. Sie verschwendete keine Worte mehr, sondern marschierte geradewegs in Verhoegens Privatzimmer, warf den Mann von seiner Krankenpritsche – was bei dem mittlerweile kräftigen Kerl gar kein leichtes Unterfangen war – und legte an seiner statt den Arzt, der für jeden Widerspruch bereits zu schwach war, auf die weiße Lederpolsterung. Verhoegen zog, als er seines Arztes ansichtig wurde, ein Gesicht des Bedauerns, das ihm die ehemalige Sprechstundenhilfe jedoch nicht abnahm. „Verschwinden Sie endlich, Sie Blutsauger!“, herrschte sie ihn an, und sie versperrte die Tür, als er – kräftigen Schrittes – die Praxis verlassen hatte. Dann suchte sie alle Räume nach den Gläsern ab, in denen der Arzt die Blutegel geliefert bekommen hatte. Jedes einzelne Tierchen wurde unter Verwünschungen ins Patientenklo geworfen. Etliche Spülungen machten die ehemalige Sprechstundenhilfe sicher, dass keiner mehr auftauchen würde. Im Arztzimmer wusch sie sich die Hände, kämmte sich die Haare, legte Rouge und Lippenstift auf, wechselte ihre Ordinationssandalen in hochhackiges Schuhwerk und klapperte, die Verführung persönlich, in Verhoevens ehemaliges Privatzimmer. Obwohl der Arzt – gänzlich ermattet – schlief oder zumindest döste, setzte sie ohne langes Vorspiel zu einem Kuss an, den man ohne zu übertreiben, als einen finalen bezeichnen kann.


(Thema: Wir erfinden neue Gattungen - Indubiosität)

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