Steinbrech und Ehrenpreis
Theodor Kerners Wangensteinbrech wuchs täglich mehrere Zentimeter, er kam mit dem Rasieren gar nicht mehr nach. „Eigentlich sollten Sie sich gar nicht rasieren“, sagte seine Nachbarin, eine passionierte Gärtnerin, „denn dieses Wangensteinbrech wächst wie jedes Unkraut umso schneller, je öfter man es schneidet.“ „Wildkraut, meine Liebe, Wildkraut“, verbesserte sie ihr Mann, ein ebenfalls passionierter Gärtner mit Hang zum Ökologismus, aber seine Frau blieb hart: „Wangensteinbrech ist Unkraut und sonst nichts, Frau Siegbert sagt das auch, und Unkraut muss mit Butz und Stängel ausgerissen werden, da hilft nichts Anderes, das können Sie mir glauben, Herr Kerner!“ Sie blinkerte Kerner mit ihren Ehrenpreisaugen an, aber der war gerade dabei, sich in Grund und Boden zu schämen. Er hatte bis zu jenem Gespräch am Gartenzaun nicht gewusst, dass er und sein Wangensteinbrech zum Gespräch der kleinen Stadtrandsiedlung geworden waren. Und so in Grund und Boden versenkt nahm sich das Wangensteinbrech nun in der Tat auch nicht mehr merkwürdig aus, vielmehr waren es Theodor Kerners viel zu helle Stirn und seine weit aufgerissenen Augen, die dem kleinen Rasenstück vor seiner Haushälfte ein merkwürdiges Aussehen verliehen. Seiner Arbeit als Justizwachebeamter konnte er nicht mehr nachkommen, hätte er doch den Inhaftierten – sich so gut wie unterirdisch fortbewegend – ein wahrlich schlechtes Beispiel abgegeben. Aber er brauchte auch keine Arbeit mehr, denn sein Nachbar, der sich von den so unnatürlich starrenden Augen in Kerners Vorgarten irritiert fühlte, schloss sie ihm eines Tages, und als er Kerners nun leer stehende Haushälfte erworben hatte, nahm sich seine Frau, immer noch eine passionierte Gärtnerin, des Wangensteinbrech an, das sich inmitten des hoch gewucherten Rasens augenscheinlich gar nicht am rechten Platz fühlte. In einem Baumarkt erwarb sie eine ansehnliche Menge Steine in verschiedensten Größen, Formen und Färbungen und deckte den ehemals Theodor Kernerschen Vorgarten damit ab. Nicht nur, dass auf diese Weise das letzte Stück Kopf des ehemaligen Nachbarn verschwand, entwickelte sich nun auch das Wangensteinbrech aufs vorteilhafteste, es dauerte nur eine Saison, da lag schon ein wahrer Teppich aus zarten, weißen Blüten über dem Steingarten.
(Thema: Naturalie)
(Thema: Naturalie)
ahg - 10. Jul, 07:11